Zu den zarten Verpflichtungen, an welche das Neujahr den Schriftsteller mahnt, gehört auch der Dank für jüngere Collegen, welche aus der Ferne vertrauend über ihre Dichterpläne berichtet und vielleicht guten Rath für sich eingefordert haben. Es wird kein Vertrauensbruch in dem Geständniß liegen, daß solche Anfragen meist von Frauen ausgingen, welche ihren ersten Ausflug in das Lesepublicum noch nicht gewagt hatten, und daß die erklärenden Schilderungen ihres eigenen Lebens zuweilen geeignet waren, warmes Mitgefühl für ernsthaftes Streben hervorzurufen. Nicht immer war möglich, solchem Vertrauen durch eingehende Antwort zu entsprechen, selbst dem Manuscripte junger Damen gegenüber mußte Schreiber dieser Zeilen einigemal mit mehr Wahrheit als Ritterlichkeit seinen Mangel an Muße bedauern. Darum möchten hier einige Bemrkungen gestattet sein, welche durch die zahlreichen Einsendungen, durch ungedruckte und gedruckte Novellen veranlaßt werden. Es ist dabei durchaus nicht die Absicht, eine Technik der Kunst zu entwickeln, oder Recepte niederzuschreiben, welche Romanen und Novellen beifällige Aufnahme verschaffen könnten, noch weniger treibt der Wunsch, neue Versuche hervorzurufen; wohl aber ist zeitgemäß, an einige - nicht neue und nicht unbekannte - Wahrheiten zu erinnern, deren Anwendung auf die eigenen poetischen Arbeiten werthen Collegen der jüngsten Altersclasse billig überlassen bleibt.

 

Wer menschliches Thun und Leiden in Roman oder Novelle künstlerisch behandeln will, muß dasselbe zweckvoll so zurichten, daß der Leser eine einheitliche, abgeschlossene, vollständig verständliche Geschichte empfängt, die ihn erfreut und erhebt, weil ihr innerer Zusammenhang dem vernünftigen Urtheil und den Bedürfnissen des Gemüthes völlig Genüge thut. Deshalb wird der Dichter vor allem bedenken müssen, daß er eine Begebenheit erzähle, deren Inhalt werth ist, daß sich die Leser dafür interessieren. Der Inhalt aber fesselt uns entweder, weil die geschilderten Ereignisse an sich bedeutend sind, oder weil sie sich über Menschen vollziehen, die uns durch den Dichter besonders lieb gemacht wurden, oder weil der Dichter durch Farbe und schöne Laune das an sich Geringe wirkungsvoll mit seiner Seele zu erfüllen weiß. Der epische Dichter bedarf darum vor allem ein starkes und freudiges Gemüth, voll von gutem Zutrauen zur Menschheit, nie verbittert durch das Schlechte und Verkehrte, dazu die Kenntniß des Lebens und menschlicher Charaktere, welche durch reiche Beobachtungen gefestigt ist. Es ist ein Vergnügen zu sehen, wie in der deutschen Gegenwart auch bei enger begrenzten Talenten die stille Freude an den Erscheinungen des Lebens zugenommen hat. Wir haben bange Jahrzehnte durchlebt, in denen die deutsche Umgebung, ihre Menschen und Zustände den Schrifrtstellern reizlos erschienen; aber der große sociale und politische Fortschritt hat den jungen Dichtern größere Ehrfurcht vor unserem Volksthum und schärferen Blick für das eigenartige Wesen moderner Menschen zugetheilt. Nicht das Abenteurliche, Seltsame, in feindlichem Gegensatz zu der gewöhnlichen Lebensordnung Ringende ist noch vorzugsweise Gegenstand künstlerischer Behandlung, sondern Heiteres oder Rührendes, das aus unserm Alltagsleben herauswächst. Auch in der Technik sind überall in Deutschland große Fortschritte sichtbar; die drei ersten Erfordernisse der ausgeführten Erzählung: eine klare Exposition, eine fesselnde Verwickelung, welche in ausgeführtem Höhepunkte gipfelt, und eine kräftige Katastrophe werden häufig mit bestem Glück erfunden; auch unsere Schriftstellerinnen schlingen den leicht geflochtenen Zopf ihrer Novelle zuweilen recht kunstvoll zum Knoten; es ist nicht das kleinste Verdienst der Dame Marlitt, daß diese Kunstfertigkeit ihr zu Gebote steht.

Dagenen wird ein anderer Uebelstand bei den neuen Arbeiten jüngerer Männer und Frauen so häufig fühlbar, daß man ihn wohl die charakteristische Schwäche unseres Dichterschaffens nennen darf. Es ist ein moderner, und vorzugsweise ein deutscher Fehler. Die Charaktere sind häufig zu künstlich und zu willkürlich zusammengedacht und gerade auf diese verwickelten und unwahrscheinlichen Voraussetzungen der Charaktere ist die Möglichkeit der Handlung gegründet. Dadurch aber wird die Wahrscheinlichkeit der erzählten Begebenheit in einer Weise beeinträchtigt, welche die gute Wirkung der Dichterarbeit vermindert, oft völlig vernichtet. Es sei erlaubt, hierbei einen Augelnblick zu verweilen. Da jede Geschichte, welche einen Stoff für die Kunst gibt, an Menschen und durch Menschehn verläuft, so ist selbstverständlich, daß überall und zu allen Zeiten die Persönlichkeit der dargestellten Menschen auch für die geschilderten Ereignisse von Bedeutung gewesen ist. Schon in der alten Thiersage und in der Göttersage sind es menschliche Eigenschaften und oft sehr scharf ausgeprägte Persönlichkeiten, durch welche die Ereignisse gerichtet werden. Aber das Besondere der Menschennatur, welches für den Verlauf einer Erzählung nothwendig, ist, wird am zweckmäßigsten doch nur Nünacirung eines leicht verständlichen Inhalts sein dürfen, welchen der einzelne Held mit vielen andern, also auch den Lesern, gemein hat. So sind in dem Roman und in der Novelle des Homer sowohl Achill als Odysseus beide sehr schön individualisirte Typen des griechischen Heldencharakters; den hochfahrenden Stolz des einen, die listenvolle Gewandtheit des andern epmfand der Grieche neben ihrer Besonderheit zugleich als die normalen Tugenden seines Stammes. In der alten italienischen Novelle von Romeo und Julie ist die Leidenschaft der Liebenden, welche das Verhängniß hervorruft, genau dieselbe, welche jeder feurige Itraliener fühlt; das ganze Ereigniß ruht nicht auf Besonderheiten der Helden, sondern auf der Verflechtung unglücklicher Verhältnisse. Und ebenso ist es in der ungeheuren Mehrzahl aller Prosaerzählungen, welche im Mittelalter und der Renaissance gesammelt wurden und noch jetzt den großen Novellenschatz bilden, aus dem diese Kunstform sich entwickelt hat.
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Man hat gegen Walter Scott, den Vater des modernen Romans, zuweilen den Vorwurf erzoben, daß er seine Helden gar zu sehr als Allerweltsmenschen geschilder htabe, die mehr auf sich wirken lassen, als durch ihre Eigenart die Begegenheiten forttreiben; aber der große Meister im Charakterisiren, der mit der sichern Naturkraft eines Genies das Kunstvollste fand, wurde auch hier durch eine richtige Empfindung geleitet; überall greifen bei ihm scharf umrissene Charaktere in das Getriebe der Erzählung ein, aber gerade die Hauptpersonen, über denen die Geschichte verläuft, sind aus bestem Grunde so angelegt, daß in ihren Leiden und Freuden jeder Leser sich mit der größten Leichtigkeit heimisch finden kann. Den Deutschen gedeiht diese Bescheidenheit in Verwendung der Charaktere nicht so leicht; uns wird - und dies ist bei unserem Drama in anderer Weise ebenso auffallend als beim Roman - das Combiniren einer Geschichte schwerer als dem Franzosen, Italiener, Spanier; dagegen ist unsere Freude an dem Originellen und Besonderen einer geschlossenen Persönlichkeit vielleicht kräftiger als bei den Fremden. Schon unsere Dichter des Mittelalters nahmen die epischen Erzählungen gern von den Franzosen, aber die besseren vertieften die Charaktere der Helden und verfeinerten das Seelenleben in den Momenten der Leidenschaft. Immer sind wir geneigt gewesen, den Charakteren große Macht über die dargestellten Ereignisse einzuräumen. Vollendes die moderne Kusnt kommt unablässig in Versuchung, den Scharfsinn, mit welchem wir die geheimen Triebfedern eines menschlichen Thuns aufzuspüren wissen, die feinere Dialektik der Sprache, in der wir Gedanken und Empfindungen darzustellen vermögen, noch bevor sie zur That werden, für ihre kusntvolle Erzählung zu verwerthen. Auch das Drama hat die erzählenden Kunstfomen mächtig beeinflußt, uns erscheint die epische Erzählung als flach und farblos, wenn sie nicht immer wieder durch Gespräch der Helden unterbrochen wird, worin der Dichter sein Bestes thut, um die Individualitäten kräftig von einander abzuheben und in ihrer Eigenart werth zu machen. In Wahrheit werden dadurch manche Romane oder Novellen von einfachem Gefüge einem Drama so ähnlich, daß sie sich mit geringer Kunst in ein wirksames Theaterstück umschreiben lassen. Zumal da zugleich mit dem kärftigen Heraustreiben des Dialogs auch die Zusammenfügung der modernen Epen dem Bau des Dramas ähnlicher gewroden ist; nicht nur eine glänzend ausgeführte Katastrophe, auch ein starker Knotenpunkt der Verwicklung sind seit Walter Scott unentbehrlich, der hierin wohl durch Shakespeare beeinflußt wurde.

Wer dürfte es unternehmen, eine so mächtige Zeitrichtung zurückzulenken auf die einfachere Schönheit aus einer überwundenen Bildungsperiode der Menschheit? Wir vermöchten kleine Novellen, wie sie im Decaerone stehen, ebenso wenig mit vollem Genuß und Erfolg zu schaffen, wie unsere Maler die Heiligenbilder der Schulen von Siena und Florenz. Ist doch die genaue Ausführung der Charaktere in unserer kunftvolleren Erzählung nichts weiter als ein Abbild der gesteigerten Freiheit und Selbständigkeit des Individuums in Kirche und Staat. Wohl aber darf man hier im Interesse schöner und sicherer Wirkungen zur Vorsicht mahnen. Da unsere jungen Novellendichter fast immer so erfinden, daß ihnen zuerst an ihrem Helden einzelne ungewöhnliche Situationen oder gar Gedanken lieb werden und zur Arbeit reizen, so ist in ihnen die Anlage des Helden früher vorhanden, als die Begebenheit ihnen deutlich geworden ist. Der Held ihrer Erzählung sucht sich fast immer erst seine Geschichte; die Erzählung wird zusammengedacht, damit einzelne vorempfundene Gedanken und Besonderheiten des Helden dargestellt werden können. Offenbar ist dieser Weg für eine gute Erzählung nicht der günstigste; erst nachdem der Zusammenhang der Ereignisse gefunden ist, sollte der Charakter der Helden wie der Nebenpersonen ausgearbeitet werden. Ist dem Dichter vor Allem der Context seiner ganzen Fabel klar und interessant geworden, so mag er eher darauf rechnen, daß der Inhalt dem gesunden Menschenverstand und dem Gemüth der Leser Genüge thue.

Aber auch die Helden der Erzählung erhalten bei der geschilderten Arbeitsweise leicht ein zerrissenes und ungleichmäßiges Wesen. Und das ist natürlich. Denn wenn auch diesen allzu hastig vorausgedachten Lieblingen des Dichters die Handlung zuerfunden wird, so zwingt diese doch, wie locker sie such gewebt sei, den Helden ihrerseits eine Anzahl von Situationen und Lebensäußerungen nachträglich auf, und solche spätere, trotz allem unvermeidliche, Unterwerfung der Charaktere unter den Zusammenhang der Begebenheiten fügt zu den vorausempfundenen Lieblingszügen der Charaktere fast immer einiges Andere in Ausdruck und Wesen, was zu der ursprünglichen Anlage nicht mehr passen will.

So sind die allzu künstlichen, problematischen, unmöglichen Charaktere deutscher Novellen in der Regel Folge einer unrichtigen Art der Arbeit. Nicht die behagliche Dichterfreude an dem Ersinnen einheitlicher Erzählung erfüllt den Schaffenden, sondern der hastige Drang, eine Tendenz, einige auffällige Situationen, lyrische und pathetische Stimmungen in Gestalten zu idealisiren. Dies ist der gewöhnlichste Fehler junger deutscher Novellisten, nicht am wenigsten unserer Schriftstellerinnen. Zuweilen ist's Anzeichen, daß die Erfindungskraft fehlt, und dann kann man nicht helfen; bei andern Dichtern ist es nur eine weit verbreitete - man darf vielleicht sagen nationale - Unart, welche durch ernsten Willen und Anleitung zu überwinden wäre. Solchen diene diese bescheidene Warnung.

In der That scheint den Deutschen seit ältester Zeit nicht leicht gewesen zu sein, den Zusammenhang einer Geschichte zu zu erfinden und gut zu berichten. Schon die älteste alliterirende Poesie unseres Stammes ist weit entfernt von der Fülle und dem Behangen hellenischer Heldenerzählung. Die Virtuosität zu erzählen und die Freude zu hören ist noch heut bei dem Araber, Italiener, Slaven, Franzosen größer als bei uns. Die edelste Schönheit unserer erzählenden Poesie liegt selten in dem Gewebe der Erzähung, sondern in dem durchleuchtenden Gemüth des Erzählers. Selbst Goethe hat zwar in seinen Novellenstoffen Werther und Hermann und Dorothea die Fabel mit schöner Meisterschaft gefügt, nicht ebenso in den Romanen. Denn nicht die Dinge an sich, wie sie waren und verliefen, sondern was sie den Menschen bedeuten, war unseren werthen Ahnen die Hautpsache. Und nicht die Thatsachen in ihrer Verknüpfung, sondern die Gedanken und Gefühle, welche durch sie aufgeregt worden, beschäftigen noch heut am meisten den erzählenden Schriftsteller. Aber die moderne Bildung gibt uns die Möglichkeit und legt uns die Pflicht auf, in unserem Schaffen die Einseitigkeit unserer Anlage durch ernste Arbeit zu besiegen.

 

Anmerkung: Der besseren Lesbarkeit wegen wurden ein Absatz eingefügt, wo im Original keiner ist. Dieser ist durch einen "." in der Leerzeile zu erkennen.

Im Neuen Reich 1872, Nr. 2

Entnommen: Gesammelte Werke, Band 16, Seite 217 - 224, 2. Auflage; Leipzig, Hirzel 1897

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